Von Joke van Kampen | © DIE ZEIT, 34/1995
AMSTERDAM. - Vergangene Woche wurde mein geographisches Wissen über Indonesien um einen neuen Ortsnamen erweitert: Rawagedeh. An diesem Ort, so enthüllte jetzt ein Dokumentarfilm im holländischen Fernsehen, starben während der "Polizeiaktion" - niederländischer Euphemismus für den blutigen Kolonialkrieg in den Jahren 1945 bis 1949 - 431 Zivilisten. Niederländische Soldaten, die auf der Suche nach einem Widerstandskämpfer waren, haben sie regelrecht abgeschlachtet.
Die Nachricht kommt zu einem Zeitpunkt, da Königin Beatrix sich für eine heikle Reise nach Indonesien rüstet. Sie will vier Tage nach den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag indonesischer Unabhängigkeit in Jakarta eintreffen. Pünktlich zum Festtag am 17. August kann sie nicht anreisen, weil Den Haag dieses Datum bis heute nicht anerkennt.
Die Niederlande, immer ausgesprochen aktiv im Kritisieren (der Vergangenheit) anderer, offenbaren nun ihre eigenen offenen Wunden. Die koloniale Vergangenheit, vor allem deren Ende, ist ein unbewältigtes und weitgehend verschwiegenes Kapitel unserer Geschichte. Die niederländische Armee kehrte geschlagen zurück - geschlagen vom Weltsicherheitsrat: "Stoppt die kolonialen Panzer!" hieß es damals, und die Vereinigten Staaten drohten damals offen, den Niederlanden die Gelder des Marshallplans zu streichen.
Die Generation, der ich angehöre, verbrachte ihre Jugend mit Demonstrationen gegen die Franzosen in Algerien und danach gegen die Amerikaner in Vietnam. Über unser höchst eigenes Vietnam, einschließlich Dutzender von My Lais, hatte damals noch niemand von uns etwas gehört. 1969 wurde endlich ein Tabu gebrochen: Joop Hueting, ein Universitätsprofessor und ehemaliger Soldat in Niederländisch-Indien, trat vor die Fernsehkameras und schockierte die Nation: "Ich habe Kriegsverbrechen begangen und auch beobachtet." Er wurde von vielen als Lügner und Nestbeschmutzer beschimpft. Aber die Regierung sah sich gezwungen, eilends eine Untersuchung einzuleiten. Das Ergebnis war der "Exzeß-Rapport" (nicht etwa Kriegsverbrechen-Rapport); in keinem einzigen Fall kam es zur Strafverfolgung.
Viele Fragen blieben offen, unbeantwortet. Aber so blieb auch die niederländische Gewißheit unerschüttert, daß sich alle Schlechtigkeit der Welt jenseits des Rheins befand, in der Heimat der früheren Nazis. Wir Niederländer waren in Indonesien allenfalls hier oder da "etwas zu weit" gegangen.
Das war die übliche Umschreibung für Taten, wie sie etwa Kapitän Westerling begangen hat: Dieser Mann hatte viele Rawagedehs auf seinem Gewissen, übrigens unter Mitwisserschaft höchster Regierungskreise. Der unerschütterliche Unterschied zwischen Gut und Böse sorgte auch dafür, daß unsere Veteranen stets wie von der Tarantel gestochen reagierten, wenn ein Landsmann die "verbotene Metapher" verwendete. "Macht aus unseren Jungs keine SS-Männer", hatte 1946 ein Parlamentsmitglied vergeblich gewarnt.
Während unseres Kolonialkrieges in Indonesien verweigerten etwa 7000 junge Männer den Griff zur Waffe. Das war ein Rekord. Aber es gab nur einen Mann, der zur anderen Seite überlief: Jan Poncke Princen. Kein anderer Name weckt in den Niederlanden bis heute soviel Emotionen. Als "Verräter" zum Tode verurteilt, nahm er nach der Unabhängigkeit die indonesische Nationalität an und wurde dort als unbequemer Kämpfer für die Menschenrechte bekannt.
Als Jan Poncke Princen jedoch 1993, also 44 Jahre nach Ende des Krieges, seine Kinder und Enkelkinder in den Niederlanden besuchen wollte, wurde ihm das Visum verweigert. Die politischen Parteien und die Regierung trauten sich nicht, es mit den zwar schrumpfenden, aber noch immer lautstarken Reihen der Veteranen aufzunehmen.
Außenminister van Mierlo erteilte Princen schließlich in diesem Jahr das erste Visum; unsere Medien nannten diese moralische Selbstverständlichkeit eine "mutige Tat". Der Vorschlag für eine breite nationale Debatte aber wurde schnell wieder zurückgezogen. Warum sollen wir alte Geschichten aufwärmen? hieß es. Dabei stört es uns nicht, daß wir von anderen - gerade auch unserem östlichen Nachbarn - verlangen, sich ihrer Geschichte zu stellen und am besten weitere 50 Jahre lang den Mund zu halten.
Und doch wäre es gut für die Niederlande, wenn eine derartige Debatte und eine internationale Untersuchung des Krieges 1945 bis 1949 endlich stattfände. Zu erforschen wären nicht nur die Kriegsverbrechen, sondern auch die politische Verantwortung: die Irreführung der eigenen Bevölkerung durch die spätkoloniale Propaganda und die Schuld der Befehlshaber in Armee und Politik.
Das Ziel dieser Suche nach der Wahrheit sollte nicht etwa sein, die Niederländer endlich zu bescheideneren Tönen in der Welt zu erziehen; seine Stimme laut und deutlich zu erheben, wo immer es um Folter und Unterdrückung geht, ist und bleibt eine ehrenwerte Sache. Nein, auf dem Spiel steht das Verständnis unserer eigenen Vergangenheit. Dieses verleugnete Erbe lastet bis heute auf dem alltäglichen Zusammenleben in unserer multikulturellen Gesellschaft.
Überfällig ist auch eine Rehabilitierung der Kriegsdienstverweigerer, die bis in die fünfziger Jahre verfolgt wurden. Um die verbotene Metapher, den verhaßten Vergleich mit den deutschen Besatzern, noch einmal zu bemühen: Niederländische SS-Mitglieder sind 1950 kollektiv begnadigt worden. Der letzte Indonesien-Verweigerer wurde noch 1957 festgenommen und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.
Die Niederländerin Joke van Kampen ist freie Journalistin
Quelle/Source: http://www.zeit.de/1995/34/Verleugnetes_Erbe
Tuesday, May 20, 2008
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